die Zeitreise mit Dr. Susanne Twardawa

... der Platz
... das Presseecho
... das Buch

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen hier vor 100 Jahren in einem Bauernhaus in der Motzstraße in der Stadt Schöneberg bei Berlin. Um Sie herum sind Wiesen und Felder. Der Bauer hat eine Schankerlaubnis bekommen und deshalb trinken Sie eine Berliner Weiße mit Schuss. Vielleicht sitzt am Nachbartisch der Dichter Theodor Fontane. Er ist oft und gerne den Weg von Berlin nach Wilmersdorf über die Motzstraße flaniert. Wenn Sie nun ihren Spaziergang fortsetzen, kommen Sie bis zur Martin-Luther-Straße. Hier geht die Motzstraße nur noch als Trampelpfad weiter. Bisher gibt es noch keine regulären Bauleitlinien für diese Schöneberger Gegend. Aber es wird bereits seit Jahren an einer Straßenplanung gearbeitet. Und die sieht dann folgendermaßen aus: An der Motzstraße soll ein Stadtplatz entstehen, über den dann der verbreiterte Weg nach Wilmersdorf führt. Dieser Platz heißt in der Planung "Z". Vorgesehen dafür ist die Kreuzung Martin-Luther-Straße/Motzstraße. Es wird im Gemeinderat darüber verhandelt:

Die zuerst in Aussicht genommene Örtlichkeit lag auf dem Gelände der zur Gemeindevertretung gehörenden Bauern Mette und Willmann, die zweite auf dem Grund und Boden des Kaufmanns Engel, der nicht Mitglied der Gemeindevertretung war. Auch wenn Mette und Willmann bei diesen Verhandlungspunkten regelmäßig die Sitzung verließen, so war es doch wohl ihrem Einfluss zuzuschreiben, dass ihnen schließlich die erheblichen Terrainabgaben für den geplanten Platz, dem heutigen Viktoria-Luise-Platz, erspart blieben.

(aus: Helmut Winz, Es war in Schöneberg. Berlin 1964, S. 104)

So kommt es, dass der Viktoria-Luise-Platz statt an die Ecke Martin-Luther-Straße/Motzstraße an die Ecke Winterfeldtstraße/Motzstraße gelegt wird. Die Schöneberger Bauern sind eben nicht zu unterschätzen. Nicht umsonst haben sie durch geschickte Verkäufe ihrer Grundstücke den Spitznamen "Millionenbauern" bekommen.

Wir sind jetzt im Jahr 1900. Der Platz "Z" ist bebaut. Fritz Encke, königlicher Gartenbaumeister, hat mit seinem Entwurf "Ruhe" den Zuschlag erhalten. Am 9. Juni 1900 ist Einweihungsfest:

Das war eines der schönsten Feste, das die Berlinische Boden-Gesellschaft veranstaltet hat. Während des Essens in einem benachbarten Restaurant wurde der Platz mit mehreren tausend elektrischen Lämpchen festlich illuminiert. Auf dem Platz selbst war ein Springbrunnen gebaut, der des Abends als "fontaine lumineuse" weithin sichtbar erstrahlte.

(aus: Gustav Haberland: Aus meinem Leben. 1931)

Gehen Sie mit mir über diesen neuen Platz. Betrachten Sie die Schmuckrabatten. In einigen Jahren werden auch die Lindenbäume um den Platz gewachsen sein und Schatten spenden.

Um den Platz herum sind Baugruben, es steht noch kein fertiges Haus. Aber auch das wird sich mit einer sensationellen Geschwindigkeit ändern. Nur drei Jahre und der Platz ist mit viel Geld mit den verrücktesten Hausgebilden bestückt. Ungefähr im Jahr 2000 wird es in Berlin so ein ähnliches Phänomen geben. Der Potsdamer Platz ist eine Brachlandschaft und auf dem Reißbrett wird ihm ein Gesicht gegeben. Namhafte Architekten werden dort auf modernste Weise mit viel Geld bauen.

Aber noch sind wir im Jahr 1900. Der Platz "Z" hat nun einen Namen erhalten: "Viktoria-Luise-Platz". Die Namensgeberin ist die damals 8-jährige Tochter Kaiser Wilhelms II, dem Denkmal-Willy, und der Kaiserin Auguste-Viktoria, genannt Kirchen-Juste. Sie wird später am Platz manchmal wohnen. Eine Wohnung in dem Jugendstilhaus Viktoria-Luise-Platz 9 ist extra für sie gebaut. Natürlich darf eine Prinzessin, auch wenn sie so selbstbewusst ist wie Vicky, nicht alleine wohnen, nicht alleine einkaufen gehen und erst recht nicht alleine über eine Straße gehen. Also hat sie eine Unmenge an Hofstaat bei sich. Diese kaiserlichen Angestellten bekommen natürlich auch ihre Wohnungen am Platz. Es kommt der Spruch in Umlauf: "Im Sommer wohnt der Adel in Charlottenburg, im Winter in Schöneberg". Auf jeden Fall sind die Wohnungen am Platz komfortabler als das Schloss mit seinen zugigen Zimmern und ohne moderne Hygieneeinrichtungen. Nicht einmal einen Aufzug gibt es im Schloß, am Viktoria-Luise-Platz aber schon. Viktoria Luise heiratet 1913 Ernst August, einen Welfen, und zieht zu ihm nach Braunschweig. Aus dieser Verbindung wird ihre Tochter Friederike Luise zumindest in den Medien berühmt, indem sie Paul I., König von Griechenland, heiratet. Medienberühmt wird auch Enkel Ernst August, der Mann von Caroline von Monaco.

Viktoria-Luise-Platz

Aber noch sind wir im wilhelminischen Zeitalter. Am Viktoria-Luise-Platz ist alles grün, die Bürger gehen satt und zufrieden unter Bäumen spazieren und treffen sich bei ihren Stammtischen oder in ihren 12-Zimmerwohnungen. Aber nicht in jedem Stadtteil Schönebergs oder Berlins ist es so bieder. Und der Gründerkrach der 70er Jahre hat auch manchen gutsituierten Industriellen ruiniert. Viele Industriearbeiter leben in Not; wenn nur eine Arbeitskraft durch Krankheit ausfällt, kann eine Familie oft die Miete nicht mehr bezahlen. Und wer ist am schwersten betroffen: die Frau natürlich. Um sich oder Familienangehörige zu ernähren, geht so ein kleines Mädchen auch mal anschaffen. Deshalb ist es politisch revolutionär, was der Abgeordnete Wilhelm Adolf Lette in die Wege leitet. Einen Verein zur "Förderung der Erwerbstätigkeit des weiblichen Geschlechts". Und obwohl es eine Privatinitiative ist, kommt eine Lawine ins Rollen. Der Verein wird mit Bittgesuchen, Anregungen, Klagen über schlechte Arbeitsverhältnisse überschüttet. Es werden diverse Schulen für Frauen und Mädchen eingerichtet, und es entsteht ein Wohnheim für alleinstehende erwerbstätige Frauen und Mädchen. Und als immer mehr Platz benötigt wird, zieht der Verein zum Viktoria-Luise-Platz. Aber zuerst wird dort ein großes Schul- und Wohnhaus extra für den Verein errichtet. Als Architekt wird der damals gerade bekannt werdende Reformbauer, Alfred Messel, geworben. Er ist der große Kritiker der Schinkelschen pallastartigen Wohnhäuser mit großartiger Dekoration aber schlechten Wohnverhältnissen. Jetzt entsteht ein Haus mit mehreren Aufgängen, einem begrünten großen Innenhof, mit luftigen Räumen. Und das nicht nur fürs Vorderhaus, sondern für den gesamten Gebäudekomplex. Ab 1902 können wir nun Frauen und Mädchen in blauen Schuluniformen über den Platz schlendern sehen. Die Kinder spielen in ihren Matrosenanzügen und Rüschenkleidern auf den Gehwegen. Auf dem Rasen spielen ist natürlich verboten. Die mutigeren Kinder spielen im Gebüsch und machen sich Häuser in den Hecken. Und im Sommer kommt der Eiswagen. Dann stehen die Kinder Schlange. Denn der Eiswagen bringt Tiefgefrorenes, das im Winter im Tiergarten gestochen und bis jetzt in Kühlräumen gelagert wurde. Die vornehmen Familien bekommen nun Eis geliefert, und wenn ein kleines Stück Gefrorenes abfällt, bekommen es die Kinder geschenkt.

Aber jetzt geht es in Riesenschritten auf den Ersten Weltkrieg zu. Kaiser Wilhelm wird als Kriegstreiber Berlin und Deutschland in eine tiefe Krise stürzen. Viele sterben im Krieg, Zivilbevölkerung verhungert, nicht wenige werden aus der Bahn geworfen, der technische und kulturelle Fortschritt bleibt stecken.

Der Musiker, Denker, Lehrer Ferruccio Busoni gehört zur kulturellen Avantgarde und emigriert als fortschrittlicher Demokrat und Kriegsgegner in die Schweiz:

Ferruccio Busoni ist ein Mann von erstaunlicher Schönheit, sehr gepflegt, sehr verwöhnt, emporgehoben durch den Beifall der Welt, umleuchtet von der Liebe seiner Schüler, Bewunderer und Anhänger.

(Jakob Wassermann)

Zurückgekehrt wohnt er, verarmt und zutiefst erschüttert durch den Ersten Weltkrieg, bis zu seinem Tod am 27. Juli 1924 am Viktoria-Luise-Platz.

Politische Umwälzungen treten ein. Die Arbeiter versuchen neue Produktionsbedingungen durchzusetzen. Nicht weit entfernt von Schöneberg, im Landwehrkanal im Tiergarten werden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Arbeiterführer, erschossen. Berlin, die Stadt der Kultur und der Schönheit, wird zur politischen Stadt, zur Stadt des Klassenkampfes.

Gehen wir jetzt über den Schöneberger Viktoria-Luise-Platz, an der Grenze zu Berlin, treffen wir Leute wie den rasenden Reporter "Egon Erwin Kisch" aus der Hohenstaufenstraße, den Dichter Ödon von Horvath aus der heutigen Martin-Luther-Straße, Rudolf Bernauer, den Lebemann, Schauspieler, Texter, Kabarettisten und Theaterbesitzer aus dem Haus Viktoria-Luise-Platz Nr. 1, oder Franz Hessel, den Schriftsteller. Franz Hessel entdeckt an dieser Gegend den Reiz des Flanierens. Wir können mit ihm zusammen über den Platz laufen und das Spazierengehen als eine Art Lektüre betrachten. Die Straße wird zum Buch. Jeder Hauseingang erzählt die Geschichten der Bewohner, wenn man nur zuhören kann. Steinerne Portiersfrauen beobachten den Besucher. Fenstergucker, Kobolde, Putten, lachende Kindergesichter, Löwen und finstere Männer überwachen das Geschehen am Platz. Natürlich denken wir auf keinen Fall an die Überwachungsautomaten, die uns im Jahr 2000 in der Stadt beobachten. Wir befinden uns in den Zwanziger Jahren, deshalb haben wir noch Zeit, wie Franz Hessel über diese Hausgeister nachzudenken:

Und nun bin ich vor kurzem in ein Hinterhaus des bayerischen Viertels gezogen. Beim ersten Besuch meiner neuen Wohnung habe ich die Einzelheiten des Vorderhauses kaum beachtet. Ich hatte schon gemietet, da fiel mir erst auf, dass im vorderen Hausflur auf einem Podest mit einmal eine Sphinx lagerte wie eine Katze auf einem Kissen. Mit der lebe ich nun in naher Gemeinschaft. Sie ist winzig gegen meine früheren Sphinxe. Sie hat ein schmales Mädchenköpfchen, und über den Nacken fällt ihr steinern ein Kopftuch. Ihre Vorderpfoten liegen nicht prankenartig drohend; schräg krümmt sich die eine zu der anderen, und man könnte ein Kinderbällchen in sie hineinlegen oder -denken. Auf eine schadhafte Stelle, eine Vertiefung über ihrer linken Brust, hat neulich ein vorwitziger junger Bekannter die Asche seiner Zigarette abgeschlagen. Manchmal im Vorbeigehen muß ich leise über ihren Rücken streichen, um das Tierchen zu ein wenig Mythologie zu ermuntern. Mit der haben wir es ja beide nicht mehr leicht.

(aus: Franz Hessel, Persönliches über Sphinxe. 1933)

Wie schwer und zugleich leicht es ist in einer Stadt wie Berlin in den Goldenen 20ern zu leben und zu überleben, beschreibt der Regisseur Billy Wilder.

Wir befinden uns im Haus Viktoria-Luise-Platz 11. Billy Wilder (1926):

Eines Nachts konnte ich wieder nicht schlafen, diesmal aber nicht wegen der rauschenden Toilette, sondern wegen der Geräusche, die aus Inges (oder Lulus) Zimmer drangen. Sie hatte nämlich Besuch, Herrenbesuch. Auf einmal klingelte es. Im Nebenzimmer geht ein erregtes Tuscheln los. Das Klingeln wird ungeduldiger, das Flüstern aufgeregter. Ich höre die Tür des Nachbarzimmers aufgehen, dann öffnet sich im Dunkeln meine Zimmertür, ich sehe schwach die Umrisse eines Mannes, der offenkundig seine Hosen und Schuhe in den Händen hält. Er steht in meinem Zimmer, die Tür wird geschlossen. Ich höre, wie die Wirtstochter zur Wohnungstür geht, um dort ... ihren Verlobten zu empfangen.

Während der ganzen Zeit steht der Mann in den Unterhosen schlotternd in meinem Zimmer. Ich flüstere ihm zu: "Mein Name ist Wilder," und er antwortet flüsternd: "Mein Name ist Galitzenstein . Können Sie mir einen Schuhlöffel leihen?" Ich sage: "Galitzenstein? Der Galitzenstein vom Maxim-Film?" Und er erwidert stolz: "Jawohl. Direktor und alleiniger Inhaber."

... Schnell entschlossen hole ich ein Manuskript und überreiche es dem Wehrlosen: "Hier habe ich einen besonders interessanten Stoff für Sie, Herr Galitzenstein, den ich Ihnen schon lange geben wollte." Er antwortet kurz angebunden: "Gut, kommen Sie morgen in mein Büro! Ich werde es morgen lesen." Ich sage: "Morgen? Morgen erinnern Sie sich schon nicht einmal mehr, wer ich bin. Jetzt müssen Sie es lesen! Sofort!" - "Ich habe meine Brille nicht dabei." - "Dann lese ich's Ihnen vor!" - "Gut. Dann kaufe ich den Stoff gleich jetzt." Und gibt mir 500 Mark.

Er macht die Tür leise auf, die Luft ist rein, er schleicht vorsichtig aus meiner Wohnung. Das Exposé hat er gar nicht erst mitgenommen.

(aus: Hellmuth Karasek: Billy Wilder. 1992 S. 65 ff.)

Mit den 500 Mark konnte sich Billy Wilder aber viele Aufenthalte im Romanischen Café leisten.

Behalten wir den langsamen Gang des Flaneurs bei, es wird nicht einfach sein, denn jetzt kommt ein dunkles Kapitel in der deutschen Geschichte. Der Hitler-Faschismus zieht ins Land. Für diese Gegend eine Katastrophe. Hier leben vorwiegend jüdische Familien. Orthodoxe Juden, liberale, dem Weltlichen aufgeschlossene Juden, tolerante Menschen, deren Weltanschauung nicht religiös geprägt ist, andere, die aus Überzeugung zum Christentum übergetreten sind, und auch viele Atheisten, Agnostiker, Freidenker. Aber dieses faschistische Regime fordert einen Beweis, dass drei Generationen lang kein jüdischer Einfluss nachgewiesen wird, ansonsten ist der Mensch vogelfrei.

Das bedeutet: Allein am Viktoria-Luise-Platz werden 17 Personen deportiert und ermordet. Im Bayerischen Viertel, auch "Jüdische Schweiz" genannt, werden ganze Häuser leergeräumt.

(siehe: Kunstamt Schöneberg, Orte des Erinnerns. 1995)

Liane Berkowitz, ein junges Mädchen, deren Eltern russische Emigranten sind, geht im Bayerischen Viertel in die Abendschule. Dort bekommt sie Kontakt zu einer Widerstandsgruppe, der "Roten Kapelle". Sie wird beim Flugblattverteilen erwischt und 1943 in Plötzensee, kurz vor ihrem 20. Geburtstag, enthauptet. Ihr Kind, das sie in der Haft geboren hat, stirbt im Heim aus nicht geklärten Ursachen. Auch der Vater ihres Kindes wird in Plötzensee ermordet. Es kann sein, dass wir Liane Berkowitz bei unserer Zeitreise begegnet sind, ein stilles, freundliches Mädchen. Sie ist nett zu den Nachbarn, hilfsbereit, freundlich. Sie ist Kommunistin, aber keine agitierende. Sie ist gebildet, und sie weiß, was ihr bevorsteht, wenn sie erwischt wird. Aber trotz ihrer großen Angst kämpft sie gegen das Unrechtsregime.

Sie kann Briefe aus dem Gefängnis schmuggeln:

Brief vom 5. August 1943:

Meine einzige teure geliebte Mamotschka!

Es ist aus. Heute, wenn es dunkel geworden sein wird, lebt Deine Lanka nicht mehr. Mein Trost und meine Hoffnung ist meine kleine Irka, die ja Gott sei Dank keine Ahnung hat von allem, was um sie vorgeht.

Mamico, Du warst mir die beste Mutter von der Welt. Alles, was man tun konnte, hast Du für mich getan und ich danke Dir. Verzeih mir meinen Tod, verzeih mir jede Kränkung, die ich Dir zugefügt, jedes hässliche Wort, ich bitte Dich, ich flehe Dich an. Kröne Dein Werk als Mutter und sei stark!!! Bleibe gesund und am Leben, lebe für meine Irka, die als Vollwaise in der Wiege liegt. Beschütze sie, behüte sie, liebe sie, lebe für sie. Durch Dich sterbe ich in der festen Überzeugung, dass meine Süße in guter Hut ist. Du wirst den letzten Wunsch Deines sterbenden Kindes erfüllen. Erzieh' Irka zu einem klugen, tüchtigen Menschen, lasse sie so viel wie möglich lernen. Lehre sie, unerschüttlich an Gott zu glauben und an Gottes ewige Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Sie soll das Andenken ihrer Eltern lieben und achten. Lasse sie in der griechisch-orthodoxen Kirche taufen. Hebe meine Haarlocke, Photo und Briefe von Remus, meine Bücher und Kleinigkeiten gut für sie auf ....... Gott war mir sehr gnädig. Er hat mich alles erfahren lassen, was eine Frau erfahren kann: Er hat mir ein Kind gegeben. Ich bin wenigstens, wenn auch nur kurze Zeit, Mutter gewesen, und dies ist das Schönste, was es gibt. Nochmals, Mamico, sei stark, sei tapfer, liebe Dein Kind und lebe für Irka. Jetzt wende ich meine Gedanken und Sinne Gott zu und bereite mich vor, zu Christus zu gehen in Vertrauen auf seine Liebe und Gnade. Ich bekreuzige Dich und Ira. Nimm Ira zu sich, sobald die Bombengefahr vorüber ist, damit sie ein Heim hat und eine so schöne Kindheit wie ich. Ich küsse und knutsche meine Irka und ihre süßen Händchen und Füßchen. Ich umarme, grüße, küsse Dich zum letzten Mal, küsse Deine Hände und empfange Deinen Segen. Deine ruhige, unglückliche Lanka

(Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin)

Wenn man solch einen Brief liest, dann weiß man auch zu schätzen, was die evangelische bekennende Kirche im Widerstand tut. Auch wenn es nur wenig Christen sind, die sich der bekennenden Synode anschließen, und auch wenn es ein geheimer Bund wird, helfen Pfarrer, wie Pfarrer Burckhardt aus dem Bayerischen Viertel, doch vielen bei der Flucht oder im Untergrund und vernichten oder fälschen Urkunden.

Aber auch dieser historische Zeitabschnitt ist vorbeigegangen, wir leben noch und können uns nun an den Aufräumarbeiten beteiligen. Ausgerechnet in der Endphase des Krieges hat es den Platz doch noch erwischt. In das Haus Viktoria-Luise-Platz 1 ist eine Bombe in den Aufzugschacht gefallen und hat das Haus von innen her zerfetzt.

Aber neben der Arbeit entsteht doch wieder die Sehnsucht nach Luxus und Abwechslung.

Bald können wir am Viktoria-Luise-Platz wieder Eis essen, ein Kino eröffnet neben Haus Nr. 9 in der Maaßenstraße. Auch ein Fotogeschäft ist bald wieder am Platz. Das Haus Nr. 5 wird abgerissen, und ein Spielplatz kommt dort hin. Wir können den Kindern beim Bolzen zusehen. Die Grünanlage hat nun nur noch zwei Durchgangswege, alles andere ist Rasen. Nicht, dass das schön ist, aber es macht am wenigsten Arbeit und kostet kein Geld. Nun wird auch die Zeit immer knapper. Zum Flanieren ist nicht mehr viel Muße da, es muss am Wiederaufbau gearbeitet werden. Nur die Kinder haben den Platz für sich als etwas vernachlässigten Abenteuerspielplatz entdeckt, auf dem sie keiner verjagt, denn einen Parkwächter oder Gärtner gibt es nicht und die Erwachsenen sind froh, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Wir beobachten, wie sich Baulücken langsam wieder schließen. Ein solides Haus kommt 1959 auf die Nr. 8. Haus Nr. 10 ist absolut modern im 60er-Jahre-Stil, rosa und türkise Farbtupfer garnieren es. Und dann passiert etwas kurioses. Der Viktoria-Luise-Platz wird dazu ausersehen, als einer der ersten Stadtplätze Berlins wieder unter denkmalpflegerischen Gesichtspunkten restauriert zu werden. Das ist 1975. Und 1980 ist der Platz wieder so schön wie früher. Und damit beginnt das nächste Wunder: Ein Haus nach dem andern bekommt eine frische Farbe. Stuck wird restauriert, nicht mehr abgeklopft. Lokale ziehen an den Viktoria-Luise-Platz. Wir können es uns nun aussuchen, in welchem Lokal wir heute essen oder Kaffee trinken werden. Und plötzlich ist es einer der urbansten Plätze in der Umgebung.

Und hier entlasse ich Sie aus unserer Zeitreise; wir sind hier und heute angelangt. Aber ich könnte mir auch eine Reise in die Zukunft vorstellen. Stellen Sie sich vor, Sie können vom Viktoria-Luise-Platz aus zum nächsten schönen Platz flanieren, und dort eine ganz andere Atmosphäre schnuppern. Ein Spaziergang zum Winterfeldtplatz, nicht schlecht, zum Wittenbergplatz oder zum Nollendorfplatz, Prager Platz und Bayerischen Platz. Und überall ist es in seiner Art urban. Und vielleicht findet man sogar ein Café oder Lokal, das auf sorgsamen Umgang mit den Gästen wert legt und seinen Angestellten so gute Arbeitsbedingungen bietet, dass man als gern gesehener Gast wiederkommen kann, auch wenn man, wie einst Billy Wilder, nur einen Kaffee bestellt, um stundenlang Zeitung lesen oder seinen Text schreiben zu können. Das wäre Lebensqualität.
 

© 2000 Dr. Susanne Twardawa, Buchhandlung Motzbuch

 

das Presseecho

... der Platz
... die Zeitreise
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Reise: Ein bisschen Frieden
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 01.09.2024 PDF S. 41 S. 42

Projektentwicklung: Schöner wohnen in Schöneberg
Tagesspiegel vom 30.10.2010 PDF

Ausflugstipp: Vom Viktoria-Luise-Platz durch das Bayerische Viertel (Silke Böttcher)
Morgenpost vom 14.11.2009 PDF

Den Atem erfahren - Zum Tod der Therapeutin Ilse Middendorf (Dorothee Nolte)
Tagesspiegel vom 05.05.2009 PDF

Wall AG schaltet 80 Brunnen in Berlin an (ben)
Business Online vom 30.03.2009 PDF

Susanne Twardawa (Geb. 1952) (Henriette Dushe)
Tagesspiegel vom 15.08.2008 PDF

Rund um den Viktoria-Luise-Platz in Schöneberg (ben)
Berliner Morgenpost vom 19.07.2000 PDF

Rund um die Fontäne - Brunnen am Viktoria-Luise-Platz - (tal)
Berliner Morgenpost vom 24.06.2000 PDF

Der Kaiser sprach von einem "geschmackvollen Entwurf" (Michael Mielke)
WELT ONLINE vom 09.06.2000 PDF

Die Buchhändlerin erzählt, wo Billy Wilder wohnte - Zum 100. Geburtstag des Viktoria-Luise-Platzes hat Susanne Twardawa ein Porträt über die Anlage geschrieben - (Julia Haak)
Berliner Zeitung vom 09.06.2000 PDF

Alles Gute zum Geburtstag, Vicki! - Der Viktoria-Luise-Platz wird 100 - eine große Feier gibt es nicht - (Alexander Uhl)
Berliner Morgenpost vom 08.06.2000 PDF

Viktoria-Luise-Platz - Vor 100 Jahren wurde das Areal eröffnet - (Harald Olkus)
Der Tagesspiegel vom 08.06.2000 PDF

"Viki" - der schönste Platz Berlins - wird 100 (Claudia Wittke-Gaida)
Berliner Kurier vom 08.06.2000 PDF

Wo einst des Kaisers Tochter residierte - Viktoria-Luise-Platz: Ein Buch zum 100. Geburtstag - (Julia Haak)
Berliner Zeitung vom 07.06.2000 PDF

Die geographische Mitte des Lebens - Vom Viktoria-Luise-Platz im Westen zum Alexanderplatz im Osten der Stadt. Jahre eines ungarischen Schriftstellers in Berlin. - (György Dalos)
Berliner Zeitung vom 11.09.1999 PDF

Hans Wall will 270 Brunnen fließen lassen - Gegenleistung: Fünf Werbetafeln pro Bezirk - (Julia Haak)
Berliner Zeitung vom 21.04.1999 PDF

Malermeister säubert Bauwerke kostenlos - Kolonnade und Brunnen am Viktoria-Luise-Platz werden von Graffiti befreit - (Volker Wartmann)
Berliner Zeitung vom 15.04.1999 PDF

Ein "Schmuckplatz" im Herzen Schönebergs - Serie "Berlin von A bis Z": Herrschaftliche Häuser prägen das Bild des Viktoria-Luise-Platzes - (Sabine Gärtner)
Berliner Zeitung vom 11.06.1998 PDF